Für Sie, die Leserinnen oder Leser dieses Blogs, ist Nachhaltigkeit wahrscheinlich schon ein klar umrissenes Programm. Vielleicht haben Sie beruflich mit dem Thema zu tun. Oder Sie studieren eine Fachrichtung, die Wege des Umbaus unseres Wirtschaftens Richtung Nachhaltigkeit erforscht. Damit gehören Sie zu den bestens informierten Insidern dieser Szene. Man könnte auch sagen: zur Avantgarde.
Aber Hand aufs Herz: Haben Sie selbst schon genaue Ideen davon, wie Ihr nachhaltiges Leben morgen und übermorgen ganz konkret aussehen kann und soll? Was treibt Sie an? Worauf freuen Sie sich? Sind es stark begrünte Städte, aus denen ein Großteil der Autos verbannt werden kann? Oder für Feinschmecker: Haben Sie Appetit auf frittierte Insekten? Würden Sie gern als einer von 20.000 Menschen in einem Wiener Hochhaus aus Holz leben und arbeiten wollen, etwa um den persönlichen Flächenverbrauch klein zu halten? Oder einfach mal einen Anzug / ein Kostüm aus Ananasfasern tragen? Gar nicht so einfach, sich künftige Veränderungen mit allen Sinnen auszumalen!
Die Bevölkerung ernst- und mitnehmen
Was für Sie schon schwierig zu beantworten sein mag, ist für die meisten Mitbürger kaum vorstellbar. Wer sich nicht intensiv mit Nachhaltigkeit beschäftigt, kann sich gar kein Bild davon machen, welche Veränderungen bereits in Planung sind oder sogar schon realisiert wurden. Sie wissen nicht, dass es Nachhaltigkeitsmanager gibt, dass Unternehmen verstärkt über Kreislaufwirtschaft nachdenken, dass Hersteller von Kosmetik und Reinigungsmitteln ihre Rezepturen überarbeiten, dass quer über alle Branchen hinweg verstärkt nach nachwachsenden oder recycelten Materialien gesucht wird. Entsprechend ist Nachhaltigkeit für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung (noch) ein kalter, abstrakter Begriff, mit dem sich weder Farben noch Formen noch Gefühle verbinden.
Selbst wenn uns aus den prallen Regalen des Einzelhandels „nachhaltig“ wie ein Zauberwort zugerufen wird, überträgt sich weder Inspiration noch Zukunftslust. Das ist so, weil die Botschaft „Kauf mich, dann tust du Gutes für dich und deine Freunde“ die gesellschaftliche und politische Dimension von Nachhaltigkeit ausblendet, selbst dann, wenn die neuen Produkte gut durchdacht und zukunftsweisend sind. Die Kunden werden nicht als denkende und am Weltgeschehen beteiligte Gemeinwesen in einen notwendigen Veränderungsprozess einbezogen, sondern auf dem kurzen Weg über ihr Ego effizient genutzt. Das hat keine Würde und reißt auch niemanden mit.
Die mögliche Rückfrage, ob denn nicht jede Marketingabteilung frei in der Entscheidung sei, ihre Produktwerbung B2C – etwa über Verpackung – als Kaufappell zu gestalten, muss ich selbstverständlich bejahen. Noch ein weiteres Zugeständnis: Wenn dies über eher kindliche Zugehörigkeitsbotschaften oder über „Wir sind alle voll cool“-Instagram-Posts funktioniert, dann ist das ein ökonomisch starkes Argument. Aber: Unternehmen, die aus Überzeugung nachhaltig handeln, werden über kurzfristige Absatzerfolge hinausdenken wollen. Sie wissen, dass sie ein Rädchen im großen, verzahnten Veränderungsprozess sind und bestimmen ihr Handeln im Kontext übergeordneter Entwicklungen. Ihr Anliegen ist es, Menschen mitzunehmen und gemeinsam nachhaltige Erfolge zu erzielen.
… und die Politik agiert im Schneckentempo
Die Institutionen ihrerseits kommen bei aller gebotenen Dringlichkeit eher langsam voran. Bereits 1987 wurde in einem Report der Brundtland-Kommission, einem Gremium für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen, der bekannte internationale Meilenstein gesetzt: „Humanity has the ability to make development sustainable – to ensure that it meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.“ Die Unterschriften kamen zusammen. Aber was folgte dann? Erst 2016 wurden die Sustainable Development Goals, kurz SDGs genannt, verabschiedet, womit man der Praxis schon etwas näher kam. 2017 dann hat die Bundesregierung in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie präzisiert, wie sie diese SDGs in Deutschland bis 2030 zu erreichen gedenkt – und 63 weitere Ziele ergänzt. Wiederum ist es Spezialisten vorbehalten, sich damit zu beschäftigen. Die Bevölkerung wird kaum angesprochen. Vieles läuft hinter den Kulissen.
Werden wir selbst konkret!
Um wirksame Veränderungen jetzt zügig in Gang und voran zu bringen, braucht es eine Aufbruchstimmung, die vom menschlichen Bedürfnis nach intakter Natur, Gemeinschaft und Gerechtigkeit getragen ist. Ziele und Wege müssen verständlich – und vom Herzen aus nachvollziehbar sein. Frei von Moral, frei von Schuldzuweisungen. Offen für Komplexität und Widersprüchliches. Gern auch mit Zuversicht und Schwung. Eine gemeinsame Idee. Pläne, denen man vertrauen mag. So viele Konzepte liegen bereits auf dem Tisch! Tragen wir sie aus den akademischen Stuben heraus, zeigen wir Zusammenhänge auf, beleuchten wir Hintergründe mit verständlichen Worten!
Die wenigsten Menschen sind motiviert, Berge zu besteigen, deren Gipfel aufgrund dichten Nebels unsichtbar sind – und zu denen noch nicht einmal ein Trampelpfad führt. Was ihnen das Leben leichter machen könnte, wäre eine Landkarte, die ein Gesamtbild der Region zeichnet und Detailinformationen über Steilhänge und Ebenen gibt. Der eine oder die andere fasste sich dann ein Herz – anstatt auf halber Höhe umzukehren.
Keine Angst vor Rückfragen!
Die Kommunikation eines jeden nachhaltigen Angebots steht vor der Aufgabe, die gesamte Gesellschaft ins Blickfeld zu nehmen, ihr Orientierungshilfen und auch die Gelegenheit zur Identifikation zu bieten – und zwar anschaulich und nachvollziehbar, auf fachliche Detailfragen ebenso eingehend wie auf die großen, auch internationalen Zusammenhänge.
Es mag anstrengend sein, sich dabei mit Einwänden von Zweiflern und Zauderern auseinanderzusetzen. Mit Menschen also, die darauf hinweisen, dass die Batterien von E-Autos wertvolle Rohstoffe verbrauchen oder dass Windparks auf See für die Tierwelt unter Wasser Lärmstress bedeuten. Aber sachliche Herausforderungen verschwinden nun einmal nicht, wenn man sie ignoriert.
Freuen wir uns doch über all diejenigen, die Finger in offene Wunden legen! Nur so können gute Angebote besser werden! Mit Ungeduld oder intellektueller Distanz kämen wir zwar ungestörter zum Ziel. Überzeugend und nachhaltig wäre das aber keinesfalls.
Die Währung der Nachhaltigkeit ist Glaubwürdigkeit. Ich würde gern die Bodenständigkeit dazugeben.
PS: Das Startfoto zu diesem Beitrag zeigt eine Fischtreppe. Man baut sie, um den Tieren trotz menschlicher Eingriffe in den Flusslauf ihren Weg nach oben zu ermöglichen. Ein anschauliches, nachfühlbares und zeitloses Bild für SDG 15: Landökosysteme schützen.