Während in Kanada die Temperaturen auf auf fast schon lebensfeindliche 49,6 Grad Celsius klettern, führen wir in Deutschland eine Debatte über ein Buch der Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Kann man machen, kann man lassen.
Eigentlich geht es um: Nachhaltigkeit
Da gibt es eine Frau in besten Jahren, und sie sagt, dass sie es sich zutraut, Kanzlerin Deutschlands zu werden. Hinter ihr steht eine ökologisch aufgestellte Partei, die seit über 40 Jahren auf Themen hinweist, die die Gesellschaft erst erst verdrängt, dann – mit erheblichem Zeitverzug – kleinlaut zur Kenntnis genommen wurden. Waldsterben. Atomare Risiken. Klimawandel.
Alles ist noch aktuell: Die Wälder sterben derzeit schneller als je zuvor. Es ist zwar nicht mehr saurer Regen, der das verursacht, nun sind es Trockenheit und Monokulturen. Tschernobyl strahlt immer noch, und in Fukushima entsorgen sie verstrahltes Wasser einfach im Meer. Weg damit, aus den Augen, aus dem Sinn. Tja, und in Sachen Klimawandel sind Jahre wie 2030, 2045 oder 2050 im Gespräch, obwohl die Wissenschaft ausdrücklich darauf hinweist, dass wie zügiger handeln müssten. Nach uns …
Angriffe unter der Gürtellinie
Die immer zahlreicher werdenden ökologischen Probleme sind offensichtlich. Wer kann sie lösen? Wer will sie lösen? Und wer hat ein Interesse daran, dass sie nicht gelöst werden?
Annalena Baerbock steht als inzwischen sehr bekannte Politikerin für den notwendigen gesellschaftlichen Wandel. Das grüne Programm, für das sie ihren Kopf hinhält, wird weit über die Parteibasis hinaus bis tief in die gesellschaftliche Mitte hinein unterstützt. Auch Unternehmer sind angetan wie nie zuvor. Wer hätte sich vor fünf Jahren noch vorstellen können, dass Siemens-Chef Joe Kaeser 2021 ohne Berührungsangst auf einem Grünen-Parteitag spricht? Das beunruhigt natürlich die politische Konkurrenz, die jetzt ihrerseits noch mehr Energie darein steckt, den möglichen grünen Erfolg auszubremsen.
Allen voran paktiert die CSU, trotz ihres zuweilen grün blinkenden Ministerpräsidents Söder stramm auf bewährten Wegen wandernd, mit jenen zweifelnden Wählerinnen und Wählern, denen die ins Auge gefassten Veränderungen noch zu wenig konkret sind und die deshalb mehr Furcht als Zuversicht empfinden. Werden die CO2-Preise mich belasten? Wird man mir mein Auto wegnehmen? Oder gar den Schweinenacken gleich vom Grill? Die Christsozialen könnten, so sie wollten, die geäußerten Sorgen aufgreifen und faire Gespräche über politische Veränderungen anbieten. Stattdessen ziehen sie es vor, die Bürgerinnen und Bürgern ins Attacke-Team einzuladen. Der Kerngedanke: Werfen wir Annalena Baerbock doch einfach auf den Scheiterhaufen der Geschichte – und alles wird gut.
Natürlich ist es nicht überraschend und völlig in Ordnung, dass eine politisch exponierte Person neben Anerkennung und Respekt auch sachlichen Widerstand kassiert. Was Annalena Baerbock aber im Moment erleben muss, überschreitet alle bisher gekannten Grenzen. Wir erleben eine ziemlich hässliche Schlammschlacht, die sie angeblich nur wegen eigener Fehler und Unfähigkeit vor allem selbst zu verantworten hat. Systematisch wird sie als Trickserin und Lügnerin diskreditiert, man unterstellt ihr immer wieder neue Täuschungsabsichten – und aktuell auch noch Urheberrechtsverletzungen in ihrem jüngst vorgelegten Buch. CSU-Generalsekretär Markus Blume spricht sogar vom „System Baerbock“. Kaum noch Raum für qualifizierte Gegenwehr …
Der Ruf nach Robert – spalte und herrsche
Angenommen, Baerbock würde nun genervt das Handtuch werfen und von ihrer Kandidatur zurücktreten, was geschähe dann? In den Foren der Social-Media-Plattformen ist der Ruf nach Robert Habeck unüberhörbar lauter geworden. Dieser aber steht für die gleichen Inhalte. Immerhin: er ist ein Mann! Das könnte die Nerven der überwiegend männlichen Foristen kurzfristig beruhigen – sofern das bei mobbenden, feixenden Schulbubendoubles überhaupt möglich ist. Ich wette aber, dass bald andere Schmutzkübel über der Partei, die wie keine andere für den ökologischen Wandel steht, ausgegossen würden.
Nicht alle Bosse sind den Grünen grün
Auch in der Wirtschaft hat manch einer ein Interesse daran, die Grünen klein zu halten. Fast schon nachvollziehbar wollen nämlich jene Unternehmen, die mit alten Technologien gut im Geschäft sind, dieses so lange wie möglich erhalten. Ein Ölkonzern lebt nun einmal vom Öl – und das zuweilen ungeniert. Ein Blick in die Geschichte:
In seinem Sachbuch „Was, wenn wir einfach die Welt retten?“ berichtet Frank Schätzing ab Seite 33 davon, dass das American Petroleum Institute, der größte Lobbyverband der US-amerikanischen Öl- und Gasindustrie, schon Anfang der Fünfziger entdeckt hatte, dass die Verbrennung fossiler Energieträger das atmosphärische CO2 in die Höhe treibt. „Aus ihrem Bericht ging hervor, dass der daraus resultierende Treibhauseffekt die Erde erwärmen würde, mit negativen bis katastrophalen Folgen.“ Dann erzählt Schätzing: „In den Siebzigern erstellte Exxon eine eigene Studie, deren Prognosen noch angsteinflößender ausfielen.“ Nun: Der Konzern blockierte die Veröffentlichung und startete eine Desinformationkampagne. Wissenschaftler wurden zudem dafür bezahlt, Gegengutachten zu schreiben – während gleichzeitig Maßnahmen gestartet wurden, um Exxon-Infrastrukturprojekte vor dem wegen des Klimawandels drohenden Anstieg des Meeresspiegels zu schützen.
Huch, kurze Unterbrechung … gerade taucht wieder die Kampagne der INSM gegen Annalena Baerbock vor meinem inneren Auge auf … Böse Geister, zieht schnell vorbei!
Selbstverständlich gibt es in Deutschland auch zahlreiche verantwortungsbewusste Unternehmen, die Schmutzkampagnen abschreckend finden und sich konstruktivere Gedanken machen. Sie lassen sich vielleicht nicht so gern in die Karten schauen und fahren in Sachen Ökologie zweigleisig, etwa indem sie erst nach und nach auf klimafreundliche Produkte und Prozesse umstellen. Aber immerhin. Es zählen das Problembewusstsein und die Handlungsbereitschaft. Mit etwas Glück finden sich sogar neue, gute Lösungen, um dem Klimawandel etwas Wirksames entgegenzusetzen.
In den letzten Jahren wurden zudem immer mehr junge Unternehmen gegründet, die von Haus aus nachhaltig aufgestellt sind und die sich als Vorreiter für den gesellschaftlichen Wandel sehen. Man könnte sagen: Diese sind oft grün-affin, und sie erzeugen mittlerweile eine respektable gesellschaftliche Dynamik: Erneuerbare Energien, Verkehrswende, Reform der Agrarindustrie …
Sind sie zu laut? Zu erfolgreich? Zu beliebt? Zu radikal? Auch im Erfolg dieser neuen Unternehmergeneration lassen sich Gründe für den politischen Feldzug gegen grünes Gedankengut erahnen. Obwohl – wenn sie ehrlich wären – auch Markus Söder und Markus Blume eigentlich sagen müssten: Cool und in die Zeit passend sind sie schon!
Zurück zum Buch
Ich schätze kluge Gedanken, offen-ehrliche Arbeitsweisen und moralisch vertretbare Grundüberzeugungen sehr – übrigens mit jedem Jahr des Älterwerdens mehr. In der aktuellen, sehr aufgeregten Debatte über Annalena Baerbocks Buch erkenne ich keinen einzigen Grund, der Kanzlerkandidatin solche Werte abzusprechen.
Wer auch immer „Jetzt: Wie wir unser Land erneuern“ geschrieben, gegengelesen und lektoriert haben mag, dürfte auf den Inhalt und die Schlüssigkeit der Argumentation geachtet haben, selbstredend auch auf das Bild, das von der Person und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock gezeichnet wird. Ich selbst habe das Buch übrigens nicht gelesen (wie wahrscheinlich das Gros der Kritiker auch nicht) – und um ehrlich zu sein: ich plane auch nicht, dies zu tun. Es ist eine zulässige, werbliche Positionierung im Wahlkampf, von der ich keine besonderen Einblicke erwarte.
Natürlich wäre es unschön, wenn Textfragmente der Einfachheit halber einfach aus renommierten Quellen kopiert worden wären, ohne dafür eigene Worte zu suchen oder wenigstens auf die Herkunft hinzuweisen. Aber würde das etwas an den Inhalten ändern? Wer das Buch liest, will Annalena Baerbocks geistigen Kosmos kennenlernen. Dabei steht nicht die Frage im Zentrum, woher sie den wohl hat.
Andere Menschen verbinden mit dem Buch ganz andere Fragen, zum Beispiel Stefan Weber, ein sogenannter Plagiatjäger. Er hat das technische Know-how, um Textschnipsel-Suchmaschinen anzuwerfen, die sprachliche Doubletten finden.
Ein Geschäftsmodell, um Geld zu verdienen. Das ist legitim. Sympathisch finde ich es nicht.
Auszüge aus einem Interview mit Stefan Weber, entdeckt in einem Facebook-Beitrag von Susan Trautwein-Köhler: "Wann starten Sie die Suche nach einem Plagiat? Ich beginne in den meisten Fällen natürlich nach einem bezahlten Auftrag, eine Arbeit zu überprüfen. Es gibt auch die Möglichkeit, das anonym über meine Webseite zu melden. Da ist es für mich dann so: Je prominenter die Person, desto interessanter ist es für mich, das zu überprüfen. Die dritte Möglichkeit wäre, dass ich auf Eigeninitiative starte. Dafür ist aufgrund der Bezahlaufträge keine Zeit mehr."
Stefan Weber dürfte es als Erfolg verbuchen, wenn es ihm gelingt, eine bekannte Politikerin zu demontieren und die Wahl zu beeinflussen. Die Sektkorken würden dann auch bei Putin und Co. knallen – denn sie alle haben vor, mit Öl, Kohle und Gas noch sehr viel Geld verdienen.
Was rollt da an?
Ich habe, was jetzt niemanden überraschen dürfte, keine Angst vor Annalena Baerbock. Eher Sorge um ihr Nervenkostüm. Aber mir wird angst und bange vor einem entfesselten Wahlkampf, in dem große Themen auf persönliche Angriffe reduziert und damit inhaltlich entleert werden. Ursprünglich war das die Agenda nur von Populisten. Deren Methoden scheinen nun auch die „bürgerliche Mitte“ zu faszinieren.
Ist das die Kommunikation der Zukunft? Dann gute Nacht.